Das Marmeladenbrot-Prinzip: Als Verwaltung kann man es niemandem recht machen

Ein wichtiger Teil meines Jobs besteht darin, Regeln festzulegen. So ist das in der öffentlichen Verwaltung. Am DZHK zum Beispiel vergeben wir jährlich etwa zwanzig Millionen Euro Fördermittel, deshalb gibt es klare Regeln für die Antragsteller, für die wissenschaftlichen Gremien und für uns als Geschäftsstelle. Ab und zu ärgert sich eine Wissenschaftlerin, weil sie nicht mehr antragsberechtigt ist, oder es meldet sich ein Postdoc mit einem Sonderfall, den wir anfangs nicht bedacht hatten. Das lässt sich aber glücklicherweise meist lösen und ist noch milde verglichen mit dem, was Gesundheits- oder Jugendämter heutzutage stemmen müssen.

In Deutschland sind wir ziemlich gut darin, an der öffentlichen Verwaltung und ihren Regularien herumzunörgeln. Dabei ist deren Ausgangspunkt ziemlich simpel: Der Staat will irgendetwas Gutes erreichen oder etwas Schlimmes verhindern, und damit keine Willkür herrscht, wird ein gemeinsames Regelwerk für alle aufgestellt. Effektiv soll es sein, außerdem natürlich fair, und bitte auch allgemein verständlich. Trotzdem ist nie jemand zufrieden.

Wenn eine Regelung viel Spielraum lässt, heißt es: Verteilung nach dem Gießkannenprinzip – Stichwort Tankrabatt. Ist sie eng gesteckt, heißt es: zu kleinteilig – Stichwort BAFöG. Werden klare Nachweise gefordert, regen wir uns über die Bürokratie auf – Stichwort Vergaberecht. Und wird auf Nachweise verzichtet, beklagen wir den allgemeinen Missbrauch – Stichwort Corona-Testzentren. Können Sie sich erinnern, jemals eine Schlagzeile gesehen zu haben, die ein neues Gesetz oder einen neuen Erlass ernsthaft lobte? („Endlich Klarheit!“, „Bürokratie ade!“) Ich jedenfalls nicht.

Nach zehn Jahren im öffentlichen Dienst habe ich ein wachsendes Verständnis für Regeln entwickelt. Damit will ich gar nicht sagen, dass sie mehrheitlich gut gemacht sind – es ist nur einfach wahnsinnig schwierig, gute Regeln aufzustellen.

Zur Illustration hier ein anschauliches Beispiel, das sich neulich bei uns zuhause am Frühstückstisch abgespielt hat:

Unsere Kinder mögen süßen Brotaufstrich. Wenn man sie ließe, würden sie vermutlich kaum etwas anderes essen. Und hier kommt unser erzieherischer Anspruch ins Spiel: Meine Frau und ich suchten (übrigens auf Bitten der Kinder) nach einer Regel, wieviel süßer Aufstrich pro Frühstück konsumiert werden durfte.

Schritt 1: die Klassifizierung. Als „süß“ gelten bei uns Honig, Marmelade und der Schokoladenaufstrich eines bekannten Schweizer Herstellers. Man könnte jetzt der Einfachheit halber sagen: pro Frühstück einmal süßer Aufstrich (egal was). Aber gegen eine so restriktive Handhabung hatte sich in der Vergangenheit Widerstand geregt. Nach einer Weile galt das ungeschriebene Gesetz: Eine zweite Portion süßer Aufstrich wird auf Nachfrage genehmigt.

Sie können sich wahrscheinlich schon denken, dass der Modus „auf Nachfrage“ bald zu Ärger führte. Bereits Vierjährige haben in solchen Dingen ein erstaunliches Gedächtnis. („Aber Mama hat mir vorgestern Schokolade und Honig erlaubt.“) Also Schritt 2: Sondieren von möglichen Zwei-Aufstrich-Regelungen. Dabei stellte sich heraus, dass wir nicht alle Kombinationen gleich bewerteten: Zweimal Schokolade war für uns ein No-Go, zweimal Honig war zur Not denkbar. Zweimal Marmelade hingegen erschien uns irgendwie in Ordnung – erstens bildeten wir uns ein, dass da weniger Zucker drin war, und zweitens fiel Marmelade unter die Obstkonsumförderungsverordnung (ObstKFVo), die bei unseren Kindern dringend nötig ist. Jetzt wurde es also kompliziert:

  • Zwei Aufstriche nach Belieben? Nein, das würde ständig zur Kombination Schoko-Schoko führen.
  • Zwei Aufstriche sind erlaubt, solange einer davon Marmelade ist? Dann würden wir unsere Tochter benachteiligen, die Marmelade nicht so gerne isst wie unser Sohn.
  • Die Kombination Schoko-Schoko ist erlaubt, sofern es sich bei beiden Brötchen um gesunde Körnerbrötchen handelt? Jetzt wurde es interessant! Aber leider auch unübersichtlich.

Zwischenzeitlich spielten wir sogar mit dem Gedanken, ein grafisches Handout zu entwerfen, das das Frühstücksregelwerk eindeutig darstellte und sich gut sichtbar im Wohnzimmer aufhängen ließ. Hinzu kam die Herausforderung, vor der auch öffentliche Verwaltungen immer stehen: Das Mitdenken von Sonderfällen und zukünftigen Entwicklungen. Was würden wir tun, wenn weitere Aufstriche ins Spiel kämen, z.B. Erdnussbutter? Und wie würden wir zuckerfreien Schokoladenaufstrich einstufen?

Zumindest die Kontrolle und Durchsetzung der Regeln war ein einfaches Thema, denn wir sitzen ja meist direkt neben unseren Kindern und bekommen live mit, was sie sich auf Brot schmieren. (Das geht im Wissenschaftsmanagement leider nicht so einfach.)

Letztendlich einigten wir uns auf die Regelung: Zwei Aufstriche sind erlaubt, aber es dürfen nicht dieselben sein. Das ist jetzt fair, leicht nachvollziehbar – und halbwegs im Einklang mit der ObstKFVo. Sind die Kinder bei Oma und Opa untergebracht, wird die Regelung vorübergehend außer Kraft gesetzt, denn wir hatten schlichtweg keine Lust, sie aus der Ferne zu kontrollieren.

Ob unsere Kinder dauerhaft mit diesem Regelwerk zurechtkommen werden, wissen wir noch nicht. Im Zweifelsfall wird es uns wohl ergehen wie der öffentlichen Verwaltung: Trotz aller Bemühungen sind am Ende alle unzufrieden.

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